Nachteule-Tabitha blubbrt
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Nicht ohne Schnee und Pute?

Nachteule-Tabitha
24.12.2018

Wer spät auf ist, hat dafür meistens einen guten Grund. Etwas das einen davon abhält, überhaupt erst müde zu werden und sich nach seinem Bett zu sehnen. Ein großes Fest, ein spannendes Buch oder ein intensives Gespräch.

Und dann gibt es noch mich. Bei mir findet gerade keine wilde Party statt, kein Buch in greifbarer Nähe und ob ich die Intensität der um mich herum geführten Gespräche so schätzen kann, weiß ich auch nicht. Es ist immer das Selbe an diesen Weihnachtstagen, anfangs sind alle äußerst gut gelaunt, abends wird Rotwein ausgeschenkt und bei Kerzenlicht und Braten beginnt die Verwandtschaft, sich in diversen Gesprächen zu verfangen. Leider dreht es sich dabei zumeist mehr um Putzmittel und Lohnsteuern als um die wirklich interessanten Themen. Dies haben auch die Jüngsten unter uns schon erkannt und so sitzen vier meiner Geschwister und Cousinen in schönster Eintracht nebeneinander, mit einem auf die Smartphones unter dem Tisch gesenkten Blick.

Ich denke kurz, ich sei die Einzige, der das auffällt. Aber ehe ich mich versehe, schnellt die Hand meiner Tante vor und reißt meinem Cousin das Handy prompt aus der Hand. „Jetzt feiern wir ein mal im Jahr zusammen Weihnachtsabend und ihr schafft es nicht ohne euer Handy!“ „Das gemeinsame Essen ist so eine schöne Tradition!“ schält sich meine Mutter ein. „So wie das Singen vor der Bescherung?“ Mein Vater verschluckt sich beim Lachen über seinen eigenen Witz. Heute fiel das altbekannte Singen unter dem Tannenbaum aus, weil unser Jüngster das ganze Wohnzimmer mit einem Schreikonzert erfüllte, das erst mit dem Öffnen des ersten Päckchens endete. „Ja, genau wie das.“ Meine Mutter findet seine Anmerkung nicht besonders lustig, und auch unsere Großmutter lehnt sich seufzend zurück. „Was ist schon Weihnachten ohne Traditionen. Stellt euch mal vor, es würde jetzt nicht den Putenbraten geben, sondern Spagetti.“ „Macht das Essen etwa Weihnachten aus?“ fragt meine Cousine herausfordernd. Sogar die anderen Kleinen legen ihr Handy weg und sehen gespannt in die Runde, weil sie merken dass die Diskussion interessanter wird.

„Denkt doch mal an die Plätzchen“ wirft meine Tante ein. „Und das große Essen an den Feiertagen. Ohne das wäre Weihnachten doch längst nicht das, was es ist, oder?“ Im Grunde genommen hat sie recht. Weihnachten ist nicht nur das Datum, zahlreiche andere Dinge zählen genauso dazu. Seit ich denken kann, hat das Fest für mich jedes Jahr in etwa die selbe Struktur. Heilig Morgen verbringe ich in der Badewanne oder, seit einigen Jahren, im wichtigsten Tanztraining des Jahres, weil alle über die Feiertage vom Studieren oder der Arbeit zurück sind. Abends geht es mit der ganzen Familie in die Kirche zum Krippenspiel. Jedes Jahr gibt es die selben Texte, Lieder und Gebete. An manche erinnert man sich erst, wenn man sie wieder gehört hat.

Anschließend begann in unserer Familie das feierliche Raclette-Essen, das mit dem ersten von zahlreichen Fresskomata endet. Wenn wir uns wieder halbwegs bewegen können, gehen wir in das bisher streng verschlossene Wohnzimmer (das ja zuvor vom Christkind besetzt war) und singen gemeinsam die obligatorischen Lieder. Die Geschenke packen wir in einer speziellen Reihenfolge aus, entweder es wird gewürfelt oder nach Geburtsmonat sortiert. Diese Traditionen wiederholen sich in den nächsten Tagen – einmal bei der Familie meines Vaters und einmal bei der meiner Mutter. Zwischendurch, am Abend des 25. Dezembers, schnappen meine Freunde und ich Luft auf dem Heiligen Rausch, der Kultparty im nahen Harthausen/Feldhausen. Nach den drei Feiertagen bin ich dann völlig vollgefressen, erleichtert weil es vorbei ist und zufrieden damit, dass es gleich wie in jedem Jahr war. Könnte ich mir das überhaupt anders vorstellen?

Unabhängig davon, um welchen Feiertag oder welches Fest es geht, helfen uns Traditionen immer weiter. Sie sind eine Art Stütze und Leitplanke, geben uns vor, was wann zu tun ist. Sie induzieren in uns genau das, was wir auch fühlen wollen. In diesem Punkt sind wir erstaunlich einfach gestrickt. Ein Kind beispielsweise weiß, dass auf die Gute-Nacht-Geschichte das Einschlafen folgt, und dass im Kindergarten vor dem Morgenkreis noch nicht gespielt wird. Ebenso kann alleine der Verzehr von Spekulatius und das Brennen von Kerzen eine Situation maßgeblich beeinflussen und in uns das Gefühl von Weihnachten vermitteln. Ebenso zeichnet es Traditionen aus, dass sie niemals universell gültig sind. Je nach Land, Region, Kontinent, Familie oder Freundeskreis variieren die Bräuche stark. Dadurch wird das Gemeinschaftsgefühl gestärkt, es entwickelt sich eine Art Identität, die Gruppe ist durch ein bestimmtes Ritual verbunden und unterscheidet sich dadurch von einer anderen.

In Bezug auf Weihnachten können sich die Traditionen in Punkto Feiertagsgestaltung, Speisen, Liederwahl, Gottesdienstbesuch, Geschenke und zahlreiche weitere Faktoren unterscheiden. Selbst das Datum variiert – die Italiener beispielsweise feiern Weihnachten erst im Januar. Folglich bieten Traditionen auch die Möglichkeit, eine andere Kultur sehr intensiv kennenzulernen und besser zu verstehen, denn sie sind in der Lage, eine Kultur enorm zu prägen. Vor allem aber geben uns festgelegte Rituale ein beruhigendes Gefühl der Beständigkeit. Um die Feiertage kehren zahlreiche Menschen von ihrem Studien- oder Arbeitsort zurück zur Familie. Coming home for Christmas, und egal wie viel sich im Leben gerade verändert, zuhause ist meist noch alles vertraut und bekannt – dank Traditionen wie einem gemeinsamen Abendessen mit einem ganz bestimmten Gericht.

Meine Tante sitzt gegenüber von mir am Tisch, als wäre sie nie fort gewesen. Dabei erlebt sie unter dem Jahr Abenteuer auf der ganzen Welt, für welche man sie nur beneiden kann. Das kleine Dorf in dem meine Familie lebt, ist längst nicht mehr ihr einziges Zuhause und doch kehrt sie jedes Jahr zurück und verbringt Zeit mit der Familie. Die Tradition, dass wir zu Weihnachten alle zusammenkommen und in dem Haus meiner Oma gemeinsam essen, singen und Geschenke auspacken, kommt ihr sehr zu Gute, denn ansonsten wäre es sehr schwierig, alle ihre Lieben auf einmal wiederzusehen.

All dies zeigt, wie wichtig Traditionen sind. Und doch schleichen sich Zweifel ein. Weil ich zum Beispiel früher immer im Krippenspiel der Engel war, und heute nur noch Zuschauer. Weil wir erst seit zwei Jahren Raclette essen, davor gab es Saitenwürste. Weil ich erst seitdem ich 16 bin den Heiligen Rausch besuche und davor immer mit meiner Familie Filme geschaut habe. Wenn man Traditionen als etwas felsenfestes, unumgängliches versteht, kann es sehr schnell zu Schwierigkeiten kommen, besonders an Weihnachten.

Wer sich extrem an Traditionen klammert, kann schon bei geringen Abweichungen straucheln. Alles, was uns dabei unterstützt etwas Bestimmtes zu fühlen, birgt die Gefahr der Abhängigkeit. Und das hat dann fatale Folgen, wenn ein Einhalten der Tradition einmal aus einem bestimmten Grund nicht möglich ist. Wenn es keine Pute gibt, weil die im Ofen verbrannt ist, fällt so das gesamte Weihnachtsgefühl weg, obwohl gekochtes Geflügel mit der Geburt des Heilands in erster Linie relativ wenig zu tun hat. Was dann?

Der große Bruder einer meiner Freundinnen hat nach seinem Abitur einen großen Schritt gewagt. Er entschied sich, für ein Jahr einen Freiwilligendienst in Bolivien zu absolvieren. Ein Jahr bedeutet: auch an Weihnachten. Damit entfällt alles, womit er seine vorherigen Weihnachtsfeste verbracht hat: Familie, bestimmte Gerichte, Kirchengänge und und und. Stattdessen sitzt er in einer Gastfamilie am anderen Ende der Welt und wird mit deren Bräuche konfrontiert. ABER er ist ein offener Mensch. Er hat sich zu Beginn des Jahres bewusst entschieden, die eigenen Traditionen zurückzulassen, um seinen Horizont zu erweitern und eine neue Kultur kennenzulernen. Deshalb hat er nun ein Weihnachtsfest erlebt, das mit seinen bisherigen Erfahrungen kaum etwas zu tun hatte. Aber das Gefühl von Weihnachten, das hat er trotzdem gespürt.

Letztendlich kommt es auch nur darauf an, auf DAS Gefühl. Traditionen sind lediglich ein Weg, das zu erreichen. Im Leben müssen wir an vielen Stellen lernen, ein bestimmtes Gefühl auch auf anderem Wege als bisher bekannt zu erreichen, zum Beispiel Geborgenheit oder Vertrauen. Langfristig MÜSSEN wir uns auf Änderungen einstellen, um mit der Zeit zu gehen. Das trainiert uns in unserer Offenheit und Flexibilität, denn keiner kann uns garantieren, ob uns die geliebten Traditionen auch im nächsten Jahr noch möglich sind.

Traditionen sind ohnehin im Wandel, und dieser Wandel bringt viel Positives mit sich. Kaum einer wird sich beschweren, dass der Weg zur Kirche heute nicht mehr mit der Kutsche sondern im warmen Auto erfolgen kann. Egal wo auf der Welt die Familie verstreut ist, der „Frohe Weihnachten“-Wunsch kommt per Instant Messenger sofort an.

Und es gibt Bräuche, die sind den jüngsten Generationen bereits gar nicht mehr bewusst. So seufzt meine Tante und sagt: „Meine Lieblingstradition ist eben immer noch eine weiße Weihnacht. Das wäre mal wieder schön!“ Daraufhin sieht mein vierjähriger Cousin sie verwundert an und sagt: „Aber Schnee gab es doch noch nie an Weihnachten!“ In der Tat kennt er das längst nicht mehr so gut wie beispielsweise ich. Sei es Zufall oder der Klimawandel, weiße Weihnachten waren in den letzten Jahren eine Seltenheit. Und Traditionen wie diese können wir nun mal in keinster Weise beeinflussen.

Da ist es doch tröstlich, dass einige Traditionen völlig wetter- und weltgeschehensunabhängig sind. Wie beispielsweise die programmierten, absolut vorhersehbaren Diskussionen meiner Verwandtschaft im Laufe des Weihnachtsabends. Und während die noch eine Weile darüber diskutiert, wie die Jugend von morgen handyabhängig und BWL-fanatisch sein wird, lehne ich mich zurück und freue mich über das wohlig weiche Weihnachtsgefühl, das selbst durch solche Kleinigkeiten seinen Höhepunkt erreicht.

ÜBRIGENS: eine sehr schöne, gut durchführbare Tradition ist eine Spende an Menschen, denen Weihnachten in ihrem Elend fremd ist. So beispielsweise die Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“.

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