Hugo war spät auf. Jana war spät auf. Theresa und Thomas waren spät auf. Charly war spät auf. Sie alle haben sie erlebt, die knisternde Spannung, die man fühlt, wenn man nicht zwischen den eigenen vier Wänden und unter dem eigenen Dach über dem Kopf einschläft, sondern weit weg auf einer Reise.
Denn auf Reisen waren sie alle. So unterschiedlich dabei ihre Beweggründe und die Ziele waren, an denen sie letztendlich gelandet sind, eine Station hatten sie alle gemeinsam: das Zuhause von Tanja und ihrer Familie.
Tanja ist vieles: Mutter von zwei Söhnen, Ehefrau, engagierte foodsharing Aktivistin, und Bewohnerin eines Häuschens auf dem wohl steilsten Berg in ganz Sigmaringen. Wenn man vor ihrer Haustüre steht, sieht man auf die ganze Stadt und das Schloss, und während das für Bewohner von Sigmaringen und Umgebung kein neuer, faszinierender Anblick mehr sein mag, stehen vor dieser Türe auch immer wieder Menschen, die extra hier her gereist sind, und für die Sigmaringen und die Landschaft, die die Stadt umgibt, ein Grund zu bleiben ist.
Vor Tanjas Türe stehen sie, weil Tanja eine Couchsurferin ist. Oder in diesem Fall: eine Couchhosterin. Vor vielen Jahren hat sie sich auf der Internetplattform von Couchsurfing, die Reisenden kostenlose Übernachtungen bei Gastgebern vermittelt und somit auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit basiert, angemeldet, ohne dabei mit großem Andrang zu rechnen. Tatsächlich erhält sie, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch in der Innenstadt wohnt, kaum Anfragen von Surfern, die auf der Suche nach einer Bleibe sind. Erst, als sie mit ihrer Familie in das Wohngebiet auf dem Berg zieht, häufen sich plötzlich die Anfragen. Insbesondere von Radfahrer, die in Donaueschingen mit dem Donauradweg beginnen und in Sigmaringen ihren ersten Zwischenstopp für die Nacht einlegen. So hat Tanja heute während den Sommermonaten ungefähr jede zweite Woche mindestens einen Couchsurfer bei sich zu Hause.
Wie mir bleibt auch ihnen nicht viel Zeit, von der Haustür aus den Ausblick über Sigmaringen zu bewundern, bevor die Tür auffliegt und Tanjas Familie den neuen Gast Willkommen heißt. Drinnen ist es gemütlich, ein liebevoll eingerichtetes Wohnzimmer mit einem großen Sofa steht den Couchsurfern für die Nacht zur Verfügung. Und bevor es ins Bett geht, gibt es meistens ein selbstgekochtes Abendessen, gute Gespräche und viel Unterhaltung durch die beiden Söhne von Tanja.
„Dass hier immer wieder fremde Leute schlafen, sind sie gewohnt. Sie freuen sich immer schon darauf, wenn wieder jemand vor der Türe steht.“ Sagt sie. Von Anfang an war das natürlich nicht so. Bei ihrem ersten Hosting ist es noch neu und aufregend, eine praktisch fremde Person im eigenen Haus zu haben. Zumal sich diese Person, ein junger Mann aus Marokko, so wohlfühlt, dass sie direkt zwei Wochen bleibt. Ein neuer Alltag pendelt sich ein, der Marokkaner unterstützt die Eltern im Haushalt und bei der Kinderbetreuung und schläft und isst im Gegenzug kostenlos.
Einer von vielen Menschen, die Tanja und ihrer Familie eine neue Kultur näherbringen. Vor allem die Kinder, die damit ganz natürlich aufwachsen, wird so Toleranz und Offenheit beigebracht. „Wer ist dein Lieblingscouchsurfer?“ fragt Tanja ihren Sohn, und er schießt sogleich los mit zahllosen Namen, zwischen denen er sich nicht entscheiden kann. Fakt ist: die positiven Erfahrungen, die Tanjas Familie mit ihren Couchsurfern gemacht haben, überwiegen deutlich. Das ist so, weil sie sich bei den Anfragen stets auf ihr Bauchgefühl verlassen. Etwas, das man ihrer Meinung nach auch wirklich tun sollte.
Die, die dann letztendlich kommen, denen vertraut die Familie, und sie wurden darin noch nie enttäuscht. Ihre Gäste reisen aus Argentinien, Spanien, England, Frankreich, den USA und Marokko an. Mit manchen sind die Beziehungen intensiver, mit manchen klickt es nicht richtig, wie es immer ist im Leben. „Wir hatten schon Gäste, die haben das System von Couchsurfing wahrscheinlich nicht ganz verstanden.“ Erinnert sich Tanja, und ihr Ehemann fügt hinzu: „Da haben wir schon befürchtet, die würden uns gleich für die Handtücher oder das Essen Geld hinhalten, weil sie sich so wie ein Hotelgast verhalten haben.“ Dann wiederum gibt es einen Scharmanen aus der Schweiz, der zu einem guten Bekannten geworden ist und die Familie längst zum Gegenbesuch eingeladen hat. Wenn die Kinder älter sind oder sie mit ihrem Mann alleine reist, will Tanja das auch unbedingt tun und selbst anfangen, zu surfen.
Dann gibt es noch Theresa und Roy, ein US-amerikanisches Ehepaar, das seine Heimat in Florida gegen einen überdimensionalen Truck ausgetauscht hat, mit dem sie nun die Welt bereisen. Im Sommer 2018 durchqueren sie außerdem mit ihren Fahrrädern Europa, und machen dabei auch in Sigmaringen Halt. Das besondere Dankeschön: ein Kulistift, auf dem aufgedruckt ist: Vielen Dank für Eure Gastfreundschaft!
Über Aufmerksamkeiten wie diese freut sich Tanjas Familie generell. Dabei muss es nichts Großes sein, Aufstriche, Marmeladen, vegane Nahrungsmittel, die sie noch nicht kennt, bringen genau so viel Freude. Ein weiteres Geschenk sind die vielen Lebensgeschichten, die sie im Laufe der Zeit gehört haben -wunderschön, berührend, und ab und zu auch ein wenig verrückt.
Tanja hat immer wieder ihren Spaß dabei, wenn zwei Kulturen aufeinandertreffen. So haben sich schon viele englische Gäste gewundert, wieso sie sonntags bei Aldi, Lidl und Edeka vor verschlossenen Türen stehen. Und alle Menschen aus anderen Ländern denken nach ihrem Aufenthalt bei Tanja, sunday sei in Deutschland prinzipiell cake day, das hat sie ihnen nämlich erfolgreich so beigebracht.
Meistens ist es nur eine Nacht oder vielleicht zwei, dann sind Tanjas Couchsurfer schon wieder ganz wo anders spät auf, aber manchmal hält sie Monate später noch Postkarten in ihren Händen – und ein Stück der weiten Welt in ihrem Wohnzimmer.
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Nachteule-Tabitha