Er ist so groß, dass der US-amerikanische Bundesstaat zwei Mal darin Platz hätte. Er hatte 60 Jahre Zeit, um zu wachsen, immer neue Bestandteile in seinen Sog aufzunehmen, und wenn es weitergeht wie bisher, wird er so schnell nicht mehr damit aufhören. Es ist ein Katastrophenfeld aus Plastik, ein Strudel aus sich umeinanderdrehenden Müllpartikeln mitten in einem unserer Weltmeere.
Wenn bei uns die Sonne untergeht, geht sie über dem Pazifik, tausende Kilometer von uns entfernt wieder auf und beleuchtet ihn in blass rotem Licht: den Müllstrudel zwischen Hawaii und Kalifornien. Die Naturkatastrophe an der wir, im Gegensatz zu vielen anderen, selbst schuld sind.
Spät auf sind wir meistens unbeschwert, glücklich, sorgenfrei. Zu verstehen, dass das nicht alles ist im Leben, dass viele tragische Ereignisse hinter unserem Rücken und meilenweit von unserer Wahrnehmung entfernt ablaufen fällt bisweilen extrem schwer. Physische Distanz kreiert sehr schnell auch eine gewisse psychische Distanz – bis uns die Ereignisse einholen und wir unweigerlich mit Negativem konfrontiert werden. Vorzugsweise geschieht dies nachts, wenn wir von der Welt eigentlich nichts mehr wissen wollen und alle Probleme in der Dunkelheit verschluckt wähnen – so wie den Müllstrudel im Pazifik.
Er ist nur einer von fünf derartiger Ozeanwirbel, und dem UN-Umweltprogramm zufolge beinhaltet jeder Quadratkilometer Meer mittlerweile 13.000 Stückchen Plastikmüll. Dieser Plastikmüll hat einen Anteil von 80 Prozent am gesamten in den Weltmeeren befindlichen Müll – zurückzuführen ist dies vor allem darauf, dass Plastik eine vergleichsweise lange Lebensdauer hat und sich nicht annähernd so schnell zersetzt wie andere Müllartikel. So kommt es dazu, dass heute bereits sechsmal mehr Plastik schwimmt als Plankton.
Zahlen wie diese erscheinen zunächst nicht selten absurd. Schließlich stellt sich wohl keiner an das Ufer eines Ozeans und kippt seinen Müllsack ins Wasser. Besonders in Binnenstaaten fragen sich die Menschen, wie sie mit ihrem alltäglichen Plastikkonsum dazu beitragen, dass die Müllstrudel und -inseln in den Meeren meilenweit entfernt von ihrer Heimat weiterwachsen. Dass Plastik so lange besteht ist auch hier wieder die erste Erklärung. Die Lebensdauer beträgt bis zu 500 Jahren – entsprechend lange Strecken können in dieser Zeit zurückgelegt werden. Die Wege dabei sind vielfältig. Neben Flüssen trägt auch Wind dazu bei, dass Plastik früher oder später im Meer landet.
Das Problem muss folglich dort gepackt werden, wo seine Wurzeln liegen: in der Entstehung und dem Konsum von Plastik. Denn dieser ist ebenso immens wie die Mengen, die anschließend im Meer landen. Dabei geht ein Großteil dieses Konsums nahezu unbemerkt von statten. Plastik ist tief in unserem Alltag integriert – auch in Gegenständen, bei denen wir überhaupt nicht damit rechnen. Wie viel Plastik wirklich in meinem Alltag ist –spät auf in der Nacht beschließe ich, dass ich es ausprobieren will. Ich will mir bewusst machen, wie viel Plastik wir brauchen und was eigentlich unnötig ist. Für einen Tag plastikfrei – schaffe ich das?
Morgens, 06:45 Uhr. Tausende Kilometer vom Pazifik entfernt in Süddeutschland klingelt ein Wecker – aus Plastik. Das ist der erste Gedanke, mit dem ich am Morgen aufwache. Dunkel erinnere ich mich an mein Vorhaben, und ich fange an zu zweifeln. Was soll ich jetzt machen? Den Wecker aus matt-weißem Plastik mit integrierter Tageslichtlampe direkt aus dem mit einem Plastikgriff besetzten Fenster in die aus Plastik bestehende schwarze Tone werfen? Meine Mutter wäre nicht begeistert. Meine Lehrer vermutlich auch nicht, wenn ich mich ab jetzt auf meine innere Uhr verlassen würde. Die würde meinen dauerhaften Schlafmangel nämlich ernst nehmen und mich vorsichtshalber jeden Tag bis zehn Uhr schlafen lassen. Es gilt offensichtlich, Alternativen zu finden.
Manche Wecker bestehen zum größten Teil aus Glas und Metall. Oder aber ich kaufe mir eine hölzerne Kuckucksuhr aus dem Schwarzwald? Fürs Erste genügen auch meine kleinen Schwestern, die sich gegenseitig so laut anschreien, dass sie das Vogelgezwitscher meines Weckers locker übertönen.
Ich schalte ihn aus und beginne mit meiner täglichen Morgenroutine. Sie bleibt nicht lange entspannt: schon beim Schminken fällt mir auf Wimperntusche, Puder, Lidschatten, Pinsel – alles besteht aus Plastik oder steckt darin. Mir fällt auch keine einzige Marke ein, die gegen die Tuben, Stifte, Pinsel, Döschen und Kästchen eine Alternative gefunden hat. Mutlos lasse ich die Pinsel sinken. Mein Gesicht bleibt heute unberührt, und der einzige Vorteil ist, dass ich dafür heute Abend kein Abschminktuch aus der Plastik-Packung ziehen muss.
Als ich vor dem Kleiderschrank stehe, denke ich schon wieder nach, und eine kurze Internet-Recherche bestätigt meine Befürchtung. Fleece-Kleidungsstücke beispielsweise bestehen in der Regel aus Polyacryl oder Polyester, und geben bei jedem Waschgang Kunstfasern ab, die so ins Abwasser gelangen, Klärwerke passieren und letztendlich im Meer landen. Wer denkt an Dinge wie diese, wenn er seine Wäsche in die Waschmaschine schaufelt?
Sollte ich deswegen heute lieber komplett auf Baumwolle umsteigen? Im Internet sind weitere Vorschläge zu finden, beispielsweise Klamotten aus Hanf. Kaufen kann man die auch online, aber weil sie ohnehin nicht so schnell geliefert werden können wie ich zur Schule muss, begehe ich schweren Herzens meinen faux-pas. Der zweite folgt sogleich, als ich beim Zähneputzen meine Zahnbürste inspiziere. Der Stiel ist aus Plastik. Wenn ich mehr Zeit hätte, beziehungsweise mich etwas mehr vorbereitet hätte, hätte ich mir eine Zahnbürste aus Holz gekauft. Eine einfache und sinnvolle Alternative, die aber in den gängigen Drogeriemärkten noch nicht angekommen ist. Das kann ich mir nicht erklären, wen würde es stören, wenn er statt Plastik Holz in der Hand hat?
Zum Glück habe ich gestern Abend geduscht, denn mit Shampoo und Duschgel aus der Plastiktube hätte sich das schwierig gestaltet. Ich habe schon davon gehört, dass sich manche Menschen die Haare mit rohen Eiern waschen. Auch ansonsten kann man wohl Duschgel und Shampoo selbst herstellen, ebenso wie Zahnpasta. Die steckt ja auch in der Plastiktube.
Das Frühstück spare ich wie immer aus und auf dem Weg zur Schule fühle ich mich schlecht. Fast das ganze Armaturenbrett meines Autos besteht schließlich aus Plastik, und auf den Schulbus umzusteigen hätte genau so wenig genutzt, denn woraus sind wohl die Sitze gebaut? Richtig, aus Plastik.
Im Mathe-Unterricht, bei der Benutzung meines Taschenrechners, meiner Stifte und meines Geodreiecks fühle ich mich nicht unbedingt besser. Bisher habe ich gefühlt mehr Ausnahmen gemacht als dass ich verzichtet habe…
Wie bitter Verzicht ist, spüre ich dann auch, als ich mich in der ersten Fünfminutenpause hungrig durch das ausgelassene Frühstück zu unserem Essensautomat begebe. Dort folgt im wahrsten Sinne des Wortes die ErNÜCHTERung. Einmal ganz davon abgesehen, dass der gesamte Automat aus Plastik in verschiedenen Weiß-Tönen besteht, ist jedes einzelne Gebäck feinsäuberlich in einer Plastiktüte verpackt. Hygiene muss sein, schon klar. Aber was hindert die Bäckerei, die den Automaten befüllt, daran, das Gebäck in Papiertüten zu packen? „Dann sieht man nicht mehr, was man gerade auswählt, du Spaßvogel.“ erklärt mir mein Kumpel freundlich. Dagegen fällt mir kein Argument mehr ein, und so hungere ich still vor mich hin, bis in der großen Pause der Bäcker kommt und frisches Gebäck lose verkauft. Die Plastikkörbe, in der die Gebäckstücke liegen, ignoriere ich mit zwei zusammen gekniffenen Augen.
Generell das Essen. Auch beim Mittagessen mache ich mir darüber Gedanken. Man muss sich nur einen Gang durch den Supermarkt vorstellen. Plastik überall. Es gibt aber mittlerweile ganze Läden, die verpackungsfrei verkaufen, beispielsweise in Reutlingen. Einkaufen also mit Gläsern und Schüsseln. Und vor allem auch mit Stofftaschen statt Plastiktüten! Zumindest letzteres ist in Deutschland mittlerweile Alltag. Bereits seit Juli 2016 sind Plastiktüten in Geschäften verboten – aus gutem Grund. Zuvor lag die Gebrauchsdauer einer Tüte bei gerade einmal 25 Minuten – dann wanderte sie in den Müll und von da aus im schlimmsten Fall in den Ozean. Durch das Gesetz konnte der Gebrauch von Plastiktüten heruntergefahren werden – um die Hälfte. Ein großer Schritt in Richtung Müll-Minimierung.
Ein Tag, in dem das bereits vorhandene Plastik umgangen wird, genügt dafür eher nicht. Das ist mir in meinem Selbstversuch klar geworden. Trotzdem starte ich am Abend noch eine letzte Runde. Mein Handy und mein Laptop stellen normaler Weise mein Unterhaltungsprogramm Nummer 1 dar - beinhalten aber eindeutig zu viel Plastik. So vergnüge ich mich an diesem Abend mit einem Buch und stelle fest, dass dieses Vorhaben gar keine schlechte Idee ist.
Auch die EU will mittlerweile mehr tun und formuliert, die das Verbot zahlreicher kleiner Alltagsgegenstände aus Plastik beinhalten. Vielleicht wird es dadurch leichter, auf Plastik zu verzichten. Wann immer den Menschen gleichwertige Alternativen geboten werden, lassen sich Verbote ertragen und in eine Chance verwandeln. Aber selbst, wenn es doch einmal Verzicht, Disziplin und Konsequenz fordert, die Menge an Müll zu minimieren, ist es das absolut Wert. Wir haben genau eine Welt, und für die lohnt es sich, sich einzusetzen.
Damit der Plastikstrudel im Pazifik in Zukunft nicht mehr wächst, sondern schrumpft, und irgendwann vielleicht ganz verschwunden ist.
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Nachteule-Tabitha