Wie eine Luftmatratze das Reisen revolutioniert
Dabei legt keiner von ihnen Wert auf Komfort – nur auf ein Dach über dem Kopf. Die Jungs sind frustriert und beschließen, etwas zu ändern. Manchmal entsteht aus misslichen Situationen etwas Großes, etwas Neues. So wie in dieser Nacht im Süden der USA.
Sigmaringen, Sommer 2017. Tausende von Kilometer östlich rüstet sich ein AirB&B in Sigmaringen für seine ersten Gäste. Mit vermieteten Zimmern haben die Besitzer des großen, von Grund auf sanierten Passivhauses schon länger Erfahrung – die Kurzzeitvermietung an Reisende aus der ganzen Welt ist etwas Neues. In mehreren geräumigen Zimmern, die jeweils voneinander abgegrenzt sind, werden sie wohnen, nur einen Steinwurf von Sigmaringens Stadtkern entfernt. Die meisten von ihnen werden nur für eine Nacht bleiben – beispielsweise, weil sie auf der Durchreise Richtung Schwarzes Meer sind. Oder – in der etwas kleineren Version – Richtung Bodensee. Manche bleiben aber auch mehrere Tage, um das Leben in Süddeutschland in seiner ganzen Unverfälschtheit kennenzulernen. Sie lassen sich von den Gastgebern die Stadt zeigen, bekommen Insidertipps und orientieren sich anhand von Karte, die die Gastgeber eigens dafür entworfen haben. Wenn sie nach einer Weile abreisen, hinterlassen viele dankbare Briefe – und so manches mal gibt es auch ein Wiedersehen.
So wird das Konzept lebendig, das einst in der Konzertnacht in San Francisco seinen Anfang hatte: „Air Bed & Breakfast“, kurz Air B&B und übersetzt „Luftmatratze und Frühstück“. Die Idee ist denkbar einfach: Privatpersonen öffnen ihre Türen Reisenden und gewähren ihnen Unterschlupf – der mindestens aus einer Luftmatratze zu bestehen hat – ohne Begrenzung nach oben. Seit 2008 besteht die Plattform: einst im Silicon Valley von den drei Konzertgängern gegründet, werden 2018 Reisende und Gastgeber in mehr als 191 Ländern vermittelt – über die Onlineplattform www.airbnb.com.
Über 200 Mio. Gäste hat AirB&B schon gehabt. Doch wie ist es möglich, dass weltweit so viele Menschen über ihren Schatten springen, private Bereiche öffnen und sich ebenso auf die privaten Räumlichkeiten anderer einlassen? Menschen schätzen auf Reisen vor allem eines: die optimale Mischung aus Abenteuer und Sicherheit – und dies möglichst preisgünstig. AirB&B erfüllt diese Ansprüche auf raffinierte Art und Weise. Das Abenteuer beginnt mit Betreten des fremden Hauses, und weil dieses nicht mehr als ein Zimmer zur Verfügung stellen muss, halten sich die Kosten in Grenzen. Die Sicherheit gewährleistet zahlreiche Mechanismen während der Vermittlung. So wird eine genaue Adresse oder andere Kontaktdaten des Gastgebers erst dann angezeigt, wenn der Gast die Buchung bestätigt hat. Davor gibt es ein bestimmtes Nachrichtenfeld, mit dem eine indirekte Kontaktaufnahme möglich ist. Damit verhindert AirB&B das Verletzten der Datenschutzrechte – aber auch die Entstehung privater Geschäfte untereinander, die folglich nicht mehr über AirB&B laufen.
Denn: bei jedem bezahlten Aufenthalt fließen 5-15 Prozent des Geldes vom Mieter sowie 3-5 Prozent vom Gastgeber an AirB&B. Daraus wird beispielsweise eine Rückversicherung finanziert, die das Unternehmen dem Gastgeber bei etwaigen Schäden durch den Gast leistet. Aus der einst kleinen Idee vom privaten, verliehenen Bett hat sich ein kommerzielles Gebiet entwickelt.
Ein Kommerz, von dem sich auch Hotels und Pensionen immer wieder bedroht sehen. Ihre Angst: greifen immer mehr Reisende auf das günstige Angebot von AirB&B zurück, stehen ihre Zimmer irgendwann leer. Viele Gastgeber von AirB&B sehen das jedoch anders. Ihr Angebot decke nur die Spitze an Übernachtungsanfragen für einen Ort ab. Im Grunde genommen sei AirB&B einfach das, was schon seit etlichen Jahren die kleinen Privatpensionen böten - nur dass die Vermittlung nun eben online erfolge.
AirB&B habe zum Zweck, mehr Wohnraum zu generieren – nicht das Gegenteil sei der Fall. Zumindest wenn es sich um einzelne Privatpersonen handele, die mit ihren vermieteten Zimmern oder Häuser aufgrund der geringen Preise und dem Abzug durch AirB&B keine hohen Gewinne erwirtschaften, sei die Befürchtung einer kommerziellen, den Hotels schadenden Strategie unnötig. Anders ist es, wenn ganze Siedlungsgesellschaften in Städten mit großem Wohnungsmangel versuchen, durch die Vermittlung von Langzeitwohnungen über AirB&B einen Vorteil zu erlangen.
Ansonsten sichert sich AirB&B weitestgehend gegen Betrug ab. So wird den Gästen die Übernachtungsgebühr erst dann vom Konto abgezogen, wenn bereits die Schlüsselabgabe erfolgt ist. Dies geschieht jedoch alles online, sodass zwischen Gast und Gastgeber keine Gespräche diesbezüglich mehr erfolgen müssen. Das bietet die Chance für andere, sehr aufschlussreiche Gesprächsthemen. Die internationalen und interkulturellen Begegnungen werden von Usern der Onlineplattform sehr geschätzt.
Auch in Sigmaringen trudeln im Sommer 2017 die ersten Gäste ein: aus Hawaii, dem Norden Amerikas, Vietnam, Russland, Südafrika und Russland. Die Vermittlung erfolgt teilweise am selben Tag wie Ankunft – oder auch mitten in der Nacht. Sei es weil die zukünftigen Mitbewohner am anderen Ende der Welt nicht an die Zeitverschiebung denken, oder weil eine chaotische Reise keine günstigeren Umstände zulässt.
So steht beispielsweise eines Abends eine russische Familie vor der Tür, die sich bereits die ganze Reise auf das berühmt berüchtigte deutsche Bier gefreut hat. Als sie feststellen, dass zu ihrer Ankunftszeit bereits alle Läden in Sigmaringen geschlossen haben, ist die Enttäuschung groß. Aber der Gastgeber kann Abhilfe schaffen: mit einem eisgekühlten Bier aus dem Keller. „Es ist schön zu sehen, mit welchen kleinen Dingen man die Leute glücklich machen kann!“ so der Gastgeber. Bleibende Kontakte sind in diesem Sommer kaum entstanden. Besonders eine mehrköpfige Reisegruppe bleibt während ihrem Aufenthalt eher unter sich. Am ehesten käme man an eine Einzelperson heran, so der Gastgeber, aber das sei ja auch vollkommen verständlich.
Zu langen Gesprächen bleibt ohnehin wenig Zeit, denn das Bereitstellen von Übernachtungsplätzen bereitet mehr Arbeit, als man zunächst vermuten könnte, zumindest wenn man sich so viel Mühe gibt wie in Sigmaringen. Ist die teils komplizierte Vermittlung mit Kontaktdatenaustausch und der Einigung auf ein Datum oder eine Uhrzeit erfolgt, wird das Zimmer hergerichtet, die Bettwäsche gewaschen und ein kleines Stück Schokolade bereit gelegt. Auch Küche und Bad werden regelmäßig gründlich gereinigt. Für die Schlüsselübergabe muss der Gastgeber sich Zeit nehmen – rund um die Uhr. Nach Ankunft der Gäste erfolgt dann eine kleine Aufklärung über bestimmte Regeln. Simple, aber klare Anweisungen, die das Zusammenleben erforderlich macht, wie das Verbot von Rauchen und Hunden oder die Bitte, nie das Dachfenster offen zu lassen. Diese sogenannten Hausregeln kann der Gast bereits zuvor dem Online-Profil entnehmen und entscheiden, ob er sich damit arrangieren kann oder nicht, sprich ob der die Location bucht oder eine neue sucht. Nicht immer verlaufe die gemeinsame Zeit reibungslos, sagen die Sigmaringer Gastgeber. Es gäbe Regelverstöße, übersteigerte Ansprüche oder wenig nachvollziehbare Kritiken im Nachhinein. Dennoch hätten sie weitestgehend positive Erfahrungen gesammelt.
Und auch für so manchen Gast bedeutet die Unterkunft in einem AirB&B das Sprungbrett für ein neues Leben. Auch Sigmaringen konnte schon das Zuhause eines jungen syrischen Zahnarztes werden – weil er durch sein AirB&B erste Kontakte knüpfen und so an einen Arbeitsplatz und eine eigene Wohnung gelangen konnte. Einen Monat hat er in dem AirB&B gelebt. Ganz anders als ein anderer junger Herr, der das Sigmaringer AirB&B lediglich für einige Stunden tagsüber buchen wollte.
Was hinter dieser etwas absurden Idee stecken könnte und welche Abenteuer und spannende Geschichten sich dank der Konzertnacht von Brian, Joe und Nathan und ihrer Idee mit der Luftmatratze noch alles entwickeln könnten, kann man sich ja gerne einmal ausmalen – in einer weiteren, schlaflosen Stunde spät auf.
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Nachteule-Tabitha